Krisen machen erfinderisch, sagt Viola Albrecht. Schließlich fehlen in Zeiten des Social Distancing die Nähe zum Kunden, die Weinfeste und der gesellige Weingenuss. Neue Konzepte müssen her, und so hat auch das Weingut Albrecht-Kiessling virtuelle Weinproben aufgelegt. “Live Tasting mit Viola” heißt das Youtube-Event des in Heilbronn ansässigen Familienweinguts: “Die virtuelle Weinprobe soll uns allen ein Gefühl der Normalität vermitteln”, erklärt die Winzerin und diplomierte Weinbauingenieurin aus Württemberg. “Die Menschen dürfen nicht zu uns kommen, so kommen wir virtuell zu Ihnen und zeigen mit Stolz und Hingabe unsere Weine.”
Sechs Weine und ein Rezept für Spargelpasta
Eine tolle Idee, denn erstens möchten wir engagierte WinzerInnen unterstützen und zweitens fehlen auch uns die Events. So langsam wird es langweilig in der selbstverordneten Quarantäne, so dass eine virtuelle Weinprobe eine willlkommene Abwechslung verspricht. Wir bestellen also per E-Mail das Probierpaket und bekommen für sehr faire 50 Euro einen Schaumwein, zwei Weißweine, einen Weißherbst und zwei Rotweine frei Haus geliefert. Dazu gibt es eine Tastingliste, ein Briefing zum Ablauf und das Rezept “Grüner Spargel trifft Nudeln”. In diesem Moment ahnt man schon, dass hier nicht einfach ein paar Flaschen geöffnet werden und man sich mit der (erlaubten) Anzahl von Gästen einen feucht-fröhlichen Abend macht. Das “Live Tasting mit Viola” verspricht vielmehr, eine virtuelle Weinprobe vom Feinsten zu werden. Und die verlangt neben Freude am Genuss auch die Bereitschaft, zwei Stunden lang konzentriert zuzuhören und sich durch sechs Weine zu kosten.
Geballtes Weinwissen von Viola und Luisa
Unterstützt wird Viola bei der Moderation der virtuellen Weinprobe von ihrer ebenfalls im Weingut tätigen, aber noch Weinbau studierenden Schwester Luisa. Außerdem dabei ist Food-Expertin Astrid, die für den kulinarischen Part zuständig ist. Jeder Wein bekommt 20 Minuten Redezeit. Neben Erklärungen zu dem jeweiligen Wein teilen die beiden Schwestern ihr unglaubliches Winzer-Know-how. Wir lernen sowohl etwas über Terroir, Trauben und Lese als auch über die Stilistiken und die Klassifizierung. Auch sensorische Aspekte, Tipps fürs Foodpairing und regionale Besonderheiten des Weinbaugebietes Württemberg kommen nicht zu kurz. An dieser Stelle ein ganz großes Kompliment an Viola und Luisa, die uns diese geballte Portion Wissen quasi nebenbei servieren. Und an Astrid, deren Spargelpasta nicht nur einfach zuzubereiten, sondern schlicht köstlich und für jeden Geschmack variierbar ist.
Was ein wenig fehlt, ist die echte, persönliche Interaktion, die der – übrigens von den TeilnehmerInnen lebhaft genutzte – Live-Chat nur begrenzt ersetzen kann. So ist es mit der virtuellen Weinprobe wie mit anderen digitalen Kommunikationsbehelfen zu Coronazeiten. Erstaunlich viel funktioniert auch online, aber irgendwann nervt das Fehlen des realen Austausches eben doch.

Weinleidenschaft über Generationen
Um so besser, dass sich die Begeisterung der jungen Winzerinnen auch über den Umweg des Internets überträgt. “Wir sehen es als unsere Aufgabe, Charakter in die Weine zu bringen, den Puls der Zeit zu spüren und gleichzeitig das Handwerk zu bewahren”, sagt Viola, die schon als Kind in Gummistiefeln im Weinkeller herumgerannt ist und in den Reben gespielt hat. Somit war der Weg zur Winzerin fast vorgezeichnet in dieser Familie, in der seit drei Generationen jeweils drei Töchter mit Leidenschaft Wein machen. Nach ihrer Ausbildung in Rheinhessen und der Pfalz studiert sie an der Weinfachschule Geisenheim. Seit ihrem Bachelor in 2018 ist sie nun fest mit auf dem Weingut tätig und zuständig für den Weinausbau, die Oenologie und die Veranstaltungen. Vor allem steckt die junge Winzerin, die sich auch bei der Nachwuchsvereinigung Generation Riesling engagiert, voller Ideen und verunsichert öfter mal ihre Eltern mit neuen Wegen und Konzepten.

Auf den Geschmack gekommen
Von Violas virtuellen Weinproben sind mittlerweile auch Peter und Annette Albrecht überzeugt. Sie kommen gut an bei den Fans des Weingutes, und auch bei Aperitivista gehen die Daumen klar nach oben. Die nächsten Live-Tastings mit Viola finden am 28. Mai (mit der Ölmühle Erlenbach), 25. Juni (mit den Linsen von Thomas Schmoll) und am 30. Juli jeweils von 19-21 Uhr statt. Die Weinpakete kosten 50 Euro inkl. Versand. Mehr Infos und Anmeldung auf albrecht-kiessling.de/veranstaltungen
Die nächsten Live-Tastings
Im Nachgang der Weinprobe kommt unser Lieblingspart, das “Stumpentrinken”. So nennen die Winzer das gemeinsame Austrinken die Reste in den Weinflaschen (oder Gläsern). Gleichzeitig ist auch der Moment der Entscheidung, welche Weine wir demnächst nachbestellen werden. Unsere Notizen von der Verkostung findet ihr im Anschluss. Frei nach dem Motto “Jeder sollte jemanden haben, der im entscheidenden Moment nachschenkt” freuen wir uns schon auf die nächste virtuelle oder besser noch echte Weinprobe im schönen Heilbronn. . Sehr herzlich haben die Schwestern nämlich alle Zuhörer auf das Weingut Albrecht-Kiessling eingeladen.
Die Weine: Unsere Verkostungsnotizen
FLORA
Wir starten die virtuelle Weinprobe mit dem großartigen FLORA, einem PetNat (“Pétillant Naturel”), in den Luisa Albrecht ihr ganzes Herzblut gesteckt hat. Dieser unfiltrierte Schaumwein aus Müller Thurgau mit einem kleinen Anteil Kerner begeistert mit einer dezenten Säure und einem runden, fülligen Aroma. Nach einmaliger Spontanvergärung verbleibt ein Rest Hefe in der Flasche, wo der PetNat weiter gärt. Somit ist jede Flasche dieses großartigen Naturweins einzigartig. Und wir Aperitivistas sind begeistert von diesem tollen Experiment. Übrigens nicht nur wir: Der FLORA erfuhr so viel positive Resonanz, dass er fast schon ausgetrunken ist.
JOHANNA und GELBER MUSKATTELLER
Der nach der dritten Tochter benannte Grauburgunder JOHANNA zeigt Charakter, einen großen Körper und nussige Aromen. Der halbtrockene Gelbe Muskatteller offenbart eine wahre Explosion an floralen und kräutrigen Aromen, die ein perfektes Gegenwicht zu Käse bilden und der somit eher ans Ende eines Menüs passt.
WEISSHERBST, MERLOT UND LEMBERGER
Nach einem interessanten Exkurs zu Kräutern und Wein mit dem WaldNetzWerk aus BadRappenau kommen wir zu Rosé und Rotwein. Bei letzterem scheiden sich in unserer multinationalen Runde die Geister. Dem französischen und dem italienischen Gaumen mundet der stabil-komplexe Merlot mit seinen Sauerkirscharomen und der dezenten Ledernote besser als der Lemberger. Obwohl letzterer von Viola als “maskulin” (was auch immer das heißt) bezeichnet wird, sind es ausgerechnet die norddeutschen Damen, die diesen körpervollen, terroirgeprägten Wein besonders mögen. Vom Lemberger Weißherbst Kabinett trocken ist selbst unsere dem Rosé-Wein nicht unbedingt zugeneigte italienische Fraktion angenehm überrascht. Eher hell gekeltert und mit dezenter Erdbeerfrucht, zeigt er viel Charakter und glücklicherweise nichts von den im Massensegment aktuell gefragten Bonbon-Rosés.
P.S. Bei unserem sonntäglichen Picknick haben wir übrigens den weißen Secco vom Weingut Albrecht-Kiessling probiert. Sehr fruchtig und so trinkig, dass die Flasche viel zu schnell leer war: eine tolle, spritzige Winzer-Alternative zum 08/15 Prosecco aus dem Supermarkt.
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